Rezension: Keiner mehr da
von Christoph Kloft
Rezension: Keiner mehr da
von Christoph Kloft
"Keiner mehr da“ – so viel, wie der Titel des Buches von Ute Bales verrät, so viel lässt er auch offen – er lässt Raum für all die Erzählungen ... oder sind es Kurzgeschichten? Oder nur kurze Geschichten? ..., die Leserin und Leser berühren und oft erschüttert zurücklassen. Jede einzelne von ihnen könnte auch ein eigenes Buch füllen, und gerade das macht diese Anthologie aus, gelingt es Ute Bales doch, das Erzählte derart zu verdichten, auf das Wesentliche zu reduzieren, dass nach jeder Geschichte erst einmal ein Innehalten nötig ist, um sich von der Intensität des Geschilderten zu lösen und eine neue Handlung zuzulassen.
Der Vater, der in seinem Stress sein Kind im Auto vergisst, der alte Mann, der seinen nach Amerika ausgewanderten Söhnen mit Geld helfen will und dabei alles verliert, der Junge, der in der Nazizeit gezwungen wird, sein Kaninchen zu töten, die Klassenkameradin, die vom eigenen Vater missbraucht wird, was die Familie erfolgreich vertuscht, und im Gegensatz dazu das friedliche Bild des Künstlers, der den Bach ein Aquarell malen lässt: So verschiedenartig die Stoffe auch sind, so groß auch die Sprünge zwischen den Zeiten und den Inhalten sein mögen – den Erzählungen ist doch stets eines gemein, ein Tiefgang, der in seinem Niveau niemals nachlässt und der scheinbar das einzige verbindende Element zwischen ihnen ist, aber eben nur scheinbar, denn es gibt noch einige mehr.
Am Ende ist jeweils keiner mehr da – oft konkret, oft auch nur sinnbildlich. Wir halten inne, schlucken gelegentlich und fühlen nach, fühlen mit. Virtuos, wie Bales mit der Sprache umgeht, wie sie ihre kurzen Geschichten erzählt, wie sie gerade dann tief zu berühren vermag, wenn sie uns mit nüchternen, spontan und zufällig anmutenden Worten, teils im Plauderton („Nein, das kann man so nicht sagen“) in das Geschehen hineinzieht, so dass wir es bisweilen schon bedauern, wenn das plötzliche Ende bereits gekommen ist. Mit Leichtigkeit gelingt es der Autorin, im Buch zu vereinen, was ihr wichtig ist: Die Liebe zu ihrer früheren Heimat, der Eifel, das Plädoyer für den Erhalt der Schönheit dieser Landschaft, ihre Liebe zur Natur, die ihr eigene Philanthropie, die sie so gerne über kleine menschliche Schwächen hinwegsehen lässt, und schließlich die in Zeiten von Rechtsruck und Autokratie so wichtige Wachsamkeit, die Bales mit uns teilt, indem sie tut, was ihr auch in anderen Veröffentlichungen Pflicht ist: Immer wieder an den größten Sündenfall der deutschen Geschichte erinnern, anschreiben gegen das Vergessen und stets subtil und ohne erhobenen Zeigefinger deutlich machen, dass es am Ende der Mensch, jeder einzelne Mensch ist, der versagt oder sich bewährt hat. Ein Appell an die individuelle Verantwortung in der Gegenwart, ein Mahnruf zur Bewahrung des Menschlichen in unkalkulierbaren, nicht nur von der Politik geschaffenen Grenzsituationen ist auch in Ute Bales' jüngstem Werk unüberhörbar.
„Keiner mehr da“ – auch wenn die Menschen ihrer Geschichten gegangen sind, so bleibt doch so vieles von diesem Buch, hallt das Erzählte nach, so dass man es kaum aus der Hand legen und erneut in die 255 Seiten eintauchen möchte, die hier teils schwerste Kost auf eine unbeschreiblich eingängige Weise aufbereitet und verdaulich gemacht haben.