Shape Divider start

Ute Bales

Autorin im Rhein-Mosel-Verlag

Leseproben Romane von Ute Bales

Keiner mehr da

 

Stress

Viertel vor sieben. Jetzt aber zack, zack! Wo ist das graue Hemd? Ob er das Kind mitnehmen könne zur Krippe, ausnahmsweise, ruft Lilly vom Flur aus, sie müsse nämlich um halb neun schon im Geschäft sein. »Klar, mach ich!«, ruft Paul aus dem Bad, während er sich die Zähne putzt und gleichzeitig nach dem Hemd angelt.

Am Kornsand

 

Rheinufer

Die Geschichte fängt an, lange bevor Helga geboren wird, und sie hat kein Ende. Sie fängt auch nicht mit Helgas Eltern an, eher mit den Großeltern, aber das ist ungewiss. Jedenfalls fußt die Geschichte auf einem ganzen Jahrhundert, aber wie Jahrhunderte so sind, verraten sie immer erst aus großer Entfernung, dass das, was passiert, mit allem verknüpft ist, was vorher war und sich mit allem verknüpft, was nachher kommt.

Bitten der Vögel im Winter

 

Kinderheim Mulfingen, Frühherbst 1942

»Nun iss endlich! Nun mal los, iss! Und sitz gerade!« Diese Worte genügen. Er stößt den Teller zurück, die Suppe schwappt über, gelbliche Brühe bildet eine Pfütze, die langsam in den Ritzen der Tischplatte versickert. Mit erhobener Hand steht die Schwester vor ihm, die weiße Flügelhaube zittert. »Was für ein Tölpel!« Er schrammt den Stuhl zurück: »Ich will nach Hause!« Die Schwester reißt an seinem Haar, droht mit Arrest. Er hält die Hände vors Gesicht, erwartet, dass sie zuschlägt. Aber sie schreit nur. »An Regeln halten musst du dich! Sonst wird es nichts mit dir!«

Vom letzten Tag ein Stück

 

1.

Wenn ich die Augen schließe, ist alles wieder da: unser Berg, der Ginster, die Schlehenhecken, der Hühnervogel, der anderswo Mäusebussard heißt.

Amerika ist weit

 

Unter dem Himmel

Als Junge hat Klaus diesen Traum. Da ist das Dröhnen der Aufklärer, die abendlich am Himmel erscheinen. Schlagartig leeren sich die Straßen und nur er, als Einziger, bleibt in einem leuchtenden Schneegestöber zurück. Ins Heranjagen des Flugzeugs breitet er seine Arme aus, hält den Kopf ganz nach oben, streckt die Zunge heraus und sieht für einen winzigen Moment das Blaue im Auge des Bordschützen. 

Die Welt zerschlagen

 

Nicht mehr weit

Alles ist erfüllt vom tiefen Keuchen ihres Atems: der Himmel, die Häuser, die Autos und Menschen. Auch er, der sie trägt, weil ihr jede Kraft fehlt. Er hat sie in eine Decke gepackt, denn sie friert, obwohl es warm ist. Die Straße scheint unendlich und während er sie stützt, dann wieder ein Stück trägt, denkt er daran, dass sie sterben könnte und diese Gedanken erfassen ihn ganz, nehmen jeden verfügbaren Raum. Ihr eingefallenes Gesicht vor Augen geht er wie ein Schlafwandler vorwärts, sieht nicht, dass Leute von ihnen abrücken und einen Bogen machen, hört nur nach dem rasselnden Geräusch ihres Atems, nach ihrem Stöhnen und Husten, ist taub für alles andere. »Es ist nicht mehr weit. Wir haben es bald geschafft.«

Kamillenblumen

 

In der Eifel wurde es Frühling. Das erste zarte Grün legte sich über die Wiesen und der wenige Schnee, der jetzt noch fiel, blieb nicht mehr liegen. Die Sonnenstrahlen brachen sich in unzähligen Regentropfen, die an den noch kahlen Zweigen hingen. Ein paar Tage schon hatte Traud so gut wie nichts gegessen, außer einem Ei, das sie einem Nest entnommen, ausgestochen und getrunken hatte. Wasser gab es im Überfluss, aber die Felder lagen öde, die Sträucher standen kahl.

Peter Zirbes

 

Die Kraniche waren zurück. Mit ihrem nimmermüden Kruh-Krürr hatten sie sich nächtens auf dem Mosenberg niedergelassen, den ganzen Tag überflogen sie im Dreiecksflug kreischend das Kailbachtal. Neben dem Patronatsfest, dem Gertrudistag, war das für die fahrenden Händler der ganzen Gegend das Zeichen zum Aufbruch.

Unter dem großen Himmel

 

Auf Strümpfen verließ er das Zimmer. Das Atmen fiel ihm schwer, aber das Herzstechen blieb aus und bis zum Maar (Vulkansee) würde er es schaffen. Er schlich die Treppe hinunter, brauchte eine Weile, bis er die Schuhe fand, und als er sie gebunden hatte, lehnte er für einen Moment erschöpft an der Wand. Schweiß perlte auf seiner Stirn.

Großes Ey

 

Dame im lila Kleid

Im Frühjahr, nachdem Johanna zwei seiner Radierungen verkaufen konnte, überfiel sie Dix mit einem Ansinnen. »Ich hab einen Wunsch. Sogar einen großen. Und weil ich jetzt etwas Geld habe, kann ich ihn endlich aussprechen.« Er zählte das Geld, das sie ihm für die Radierungen auf den Tisch gelegt hatte, in seine Börse und grinste. »Das war mehr als dringend. Wenn du wüsstest, wie abgebrannt ein Mensch sein kann.«