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Ute Bales

Autorin im Rhein-Mosel-Verlag

Keiner mehr da

 

Stress

Viertel vor sieben. Jetzt aber zack, zack! Wo ist das graue Hemd? Ob er das Kind mitnehmen könne zur Krippe, ausnahmsweise, ruft Lilly vom Flur aus, sie müsse nämlich um halb neun schon im Geschäft sein. »Klar, mach ich!«, ruft Paul aus dem Bad, während er sich die Zähne putzt und gleichzeitig nach dem Hemd angelt.

Dann hält er die Zahnbürste unter das fließende Wasser, steckt sie zurück in den Becher, wischt den Mund ab, knöpft das Hemd zu, greift nach der Krawatte. Schnell noch frühstücken, einen Kaffee im Stehen, währenddessen Unterlagen zusammensuchen, nachsehen, ob er alles dabei hat: die Mappe mit den Bauplänen, seine Notizen für die Sitzung, Brille, Handy, Geld. Die Kleine schläft noch halb, als Lilly sie für die Kinderkrippe anzieht und die Dose richtet mit den gestifteten Möhren und den Apfelstücken. »Ich komm mit runter«, sagt sie, verstaut noch zwei Windeln und das Fläschchen in der Tasche mit dem Einhorn. Die Kleine sträubt sich, als Lilly sie hochhebt und verzieht das Gesicht, als ob sie anfangen wolle zu heulen. Aber Lilly setzt sich das Kind auf die Hüfte, folgt Paul die Treppe hinunter zum Auto und küsst ihn. »Denk dran«, sagt sie, »heute Abend sind wir zu Ferchs eingeladen. Wir sollen was mitbringen. Einen Salat oder so was.« »Sorry, bei mir wird’s spät heute. Entscheide du. Hab jetzt keine Zeit mehr. Drück mir die Daumen für die Sitzung.« Lilly packt die Kleine in den Kindersitz auf der Rückbank und gibt ihr einen Kuss. »Tschüss, meine Süße, bis später. Mama hat dich sooo doll lieb.« Dabei reißt sie die Arme nach oben und malt einen riesigen Ballon in die Luft. Die Kleine streckt die dicken Ärmchen. Paul ist kaum vom Hof gefahren, da schläft sie ein. Zur Firma ist es Gott sei Dank nicht weit, 30 Minuten, wenn es gut läuft, allerdings ein paar Kreisverkehre und Ampelschaltungen, die Zeit brauchen. Das Radio ist leise gestellt, aber so, dass er alles hören kann. Er trommelt mit den Fingern auf das Lenkrad. »Billie Jean is not my lover, she’s just a girl who claims that I am the one, but the kid is not my son, she says I am the one, but the kid is not my son …« Er mag Michael Jackson und überlegt, welches Album das war. Dann Nachrichten zur halben Stunde. Belgien will der Ukraine 30 F-16 Kampfflugzeuge zur Verfügung stellen. Macron ist auf Staatsbesuch in Deutschland. Es folgen Prognosen zur Europa-Wahl. Zum Schluss das Wetter. Sonnig soll es bleiben, wolkenlos, bei 20 Grad. Er hört nur mit halbem Ohr zu. Die Mutter liegt in der Klinik mit Oberschenkelhalsbruch. Er überlegt, wann er hinfahren könnte. Vielleicht morgen. Vor ihm trödelt ein E-Golf. Der Fahrer fährt 40, obwohl 60 erlaubt sind. Das Handy klingelt. Er kann nicht abheben. Das Klingeln hält an und macht ihn nervös. Er dreht das Radio lauter. »Israelische Streitkräfte haben erneut Angriffe im südlichen Gazastreifen in Rafah durchgeführt. Mehrere Dutzend Menschen sind dabei getötet worden. Medienberichten zufolge sind Panzer ins Zentrum der Stadt vorgedrungen.« Er dreht leiser. Die Nachrichten sind kaum auszuhalten. Das Handy beruhigt sich, aber keine zwei Minuten später vibriert es wieder. Nein, er kann jetzt nicht. Aus dem Augenwinkel sieht er, dass es Alain ist. Was kann er wollen? So früh? Eine Viertelstunde wird er sich noch gedulden müssen. Paul fällt ein, dass er vergessen hat, die Computerbrille mitzunehmen. Mit der sieht er besser als mit der Lesebrille. Er zweifelt, ob er die Lesebrille auch wirklich eingepackt hat, tastet in seiner Tasche herum. Die Brille ist da. Gott sei Dank. Was Alain wohl gewollt hat? Alain ist sein Vorgesetzter. Sie sind per Du, dennoch lässt Alain den Chef oftmals ganz schön raushängen. Paul geht die Tagesplanung nochmal durch. Die Sitzung wird sich ziehen. Sicher fällt die Mittagspause aus. Um neun kommen Rix, der Architekt, und Marcel Durant vom Vorstand, und dann noch einer von einer Agentur, ein junger Schnösel, jedenfalls nach Meinung der Sekretärinnen. Frühestens um Viertel nach neun wird es losgehen, mit der üblichen Begrüßung durch Alain. Dann wäre er dran. Ein paar einleitende Worte, dann würde er seinen gläsernen Pavillon präsentieren. Ganz in die Landschaft hat er den Bau integriert, flankiert von Birken und Kiefern, als Übergang zu einem Park, dabei ausschließlich umwelt- und klimaschonende Aspekte bei der Konstruktion bedacht. Nur lokale Materialien sollen verbaut werden. Die großzügige Glaswand, die sich in eine breite Türöffnung verwandeln kann, gefällt ihm besonders. Gäste gleiten sozusagen durch den Pavillon hindurch, denn die gläserne Wand lässt sich komplett zur Seite falten und verbindet den Bau unmittelbar und schwellenlos mit den Plätzen und Wegen des Parks. Paul hat alles bedacht, alles berechnet. Der Entwurf ist gut geworden. Sehr gut sogar. Er lehnt sich zurück, während er den Drücker bedient, mit dem er das Fenster der Fahrertür einen Spalt breit öffnet. Wenn er bloß etwas mehr Ruhe hätte. Auch im Büro. Aber da ist ständig jemand mit einer Frage, einer Bitte, einem Kommentar. Ein Großraumbüro mit sechs Arbeitsplätzen. Eines der Telefone klingelt immer. Auch zuhause hat er keine Ruhe. Gestern hatte Lilly ihn, noch bevor er am Abend seine Jacke an die Garderobe hängen konnte, aufgefordert, die Spülmaschine auszuräumen. Oft ist sie so genervt, sieht nicht, dass er hungrig und müde ist. »Du hast’s gut, hast mit alldem nichts zu tun«, hatte sie gesagt und auf das Spielzeug gewiesen, das im Wohnzimmer verbreitet herumlag, auf die halb ausgeräumte Einkaufstasche, auf die ungeöffneten Briefe, auf den Korb mit Wäsche, auf die Kleine, die in ihrem Babystuhl vor einem halb leer gegessenen Teller mit Brei saß, von dem ein Teil in ihren Haaren, auf dem Lätzchen und auf dem Boden gelandet war. Lillys Stimme war gereizt. »Du kannst gleich mal loslegen«, hatte sie ihn angefahren und geklagt, dass sie erst am Morgen geputzt hätte, und jetzt, hach, sieh dir das mal an, wie es wieder aussieht. Er wollte sich über den Kühlschrank hermachen, fand aber nichts außer einem Becher Joghurt, den er, gelehnt an die Küchentür, mit einem benutzten Löffel auskratzte. Später dann Lillys Gemurre, weil er das Zeug auf dem Wohnzimmertisch zusammengeschoben hatte und seine Akten ausbreiten wollte. »Kannst du nicht warten, bis die Kleine schläft?« Also gut, Spülmaschine ausräumen, Boden säubern und Müll runterbringen. Gegen neun, als Lilly und die Kleine schliefen, konnte er damit anfangen, seine Planung nochmal durchzurechnen, Ungenauigkeiten zu bereinigen.