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Ute Bales

Autorin im Rhein-Mosel-Verlag

Unter dem großen Himmel

 

Auf Strümpfen verließ er das Zimmer. Das Atmen fiel ihm schwer, aber das Herzstechen blieb aus und bis zum Maar (Vulkansee) würde er es schaffen. Er schlich die Treppe hinunter, brauchte eine Weile, bis er die Schuhe fand, und als er sie gebunden hatte, lehnte er für einen Moment erschöpft an der Wand. Schweiß perlte auf seiner Stirn.

 

Draußen atmete er freier. Er folgte der Wegspur durch nasses, hohes Gras hinab zum morastigen Ufer. Ungeschickt wich er einem Vogelgerippe aus, das mit verdrehten Flügeln auf dem Schlick unter dem Nebelgesträuch lag. Das Weiß blendete. Wochen war es her, seit er das Haus verlassen hatte. Viel zu lange hatte er gelegen. Beklemmende, unnütze Tage.
Zwei verspätete Mäher kamen ihm entgegen. Sie grüßten mit blitzenden Sensen und als sie vorüber waren, hörte er sie lachen.
Das Maar dampfte. Trübfarbig und tief schien es ihm schwebend. Unter dem Wasserdunst wurde Gehölz sichtbar, ans Ufer getrieben, gefangen zwischen Schilf und Algen. Da waren die Stufen, der Hang. Wie hinter einem Schleier die Büsche auf der gegenüberliegenden Seite. Über allem der Schrei eines Vogels. Brombeersträucher wucherten an den Sumpflöchern, daneben Brennnesseln und Disteln in wilden Büscheln.
Der Sommer war lang und heiß gewesen, am Ufer waren die Höhen der letzten Wasserstände in Ringen von getrocknetem Schlamm und Schwemmgut abgezeichnet.
Auf dem verwachsenen Pfad kam er nur langsam voran. Manchmal blieb er stehen, rang nach Luft, sah auf die bewegte Wasser­oberfläche, unter der es schwärzlichgrün heraufwallte, schmeckte den fischigen Moder. Auch heute glaubte er vom Grund des Maares herauf ein dumpfes Grollen zu hören, ein unterirdisches Geschiebe, und es war ihm, als ob im tiefsten Inneren das Wasser von unsichtbaren Stößen bersten würde. Wasserblasen würgten empor, Kraft geladener Atem des Maares, zerplatzend an der Oberfläche, silbern zerfließend.
Damals, vierzehnjährig, hatte er das Maar zum ersten Mal gesehen. Es war an einem Sommertag gewesen und das Wasser, gegen die Sonne, war leicht und klirrend herangekommen. In Wellen aus flüssigem Silber hatte er seine Zehen getaucht und sich fortgeträumt vom Schattenleben eines Schülers und sich an diesem Ufer gesehen, sitzend vor seiner Staffelei, den Pinsel in der Hand, das Glitzern malend, die Wärme.
Unzählige Male hatte er sommers das Holzgestell zwischen dornigem Ufergestrüpp aufgerichtet, oft im knietiefen Morast, sich zerfressen lassen von Schnaken und Bremsen. Im Winter, wenn der See zugefroren war, hatte er die Malwerkzeuge auf die eisige Mitte gezogen und im Frühjahr, während die Eisflächen rissen, unter dem Stöhnen und Brüllen des Maares seine Farben gemischt.
Nirgends sonst hatte er sich allen Ursprungs so nah gefühlt. Nirgends sonst war das Wechselspiel des Lichtes mit den Farben des Wassers und der Wolken stärker. An diesen Ufern hatte er in die Tiefe der Erde gelauscht. Hier war nichts von den Schmerzen der Welt: alles untrüglich, alles wahrhaftig.
Nur mit den Menschen war es anders.
Gleich würde Theodora kommen. Gleich würde sie kommen und ihn fortbringen.

 

Frühsommer 1907
Der Brombeerbusch hatte ihn fast vollständig unter sich aufgenommen. Auf der Steinbank liegend sah er nichts als dieses luftige Blättergrün, das sich, je länger er es betrachtete, immer lichter auffächerte und schließlich vom glasigen Blau des Himmels aufgesaugt wurde. Er spürte Trägheit in den ausgestreckten, weit entfernten Gliedern, verfolgte den Flug einer Wespe, dann verlor sich sein Blick wieder im Blätterwerk mit seinen unreifen, grünrötlichen Beeren.
Er langte nach einem der Äste, beugte ihn zu sich herab, riss an einer Frucht, die er sich in den Mund schob. Wenn man sie nur lange genug kaute, mindestens fünf oder zehn Minuten lang, würde sie süß werden und weich, und so wäre es auch mit dem Leben. Das hatte der Vater gesagt. Wenn man nur lange genug Geduld aufbrächte, lange genug den Kiefer mahlen ließe, bis das Herbe nachgäbe, würde auch das Leben süß und lockend. Und das, was ihm jetzt, während er kaute, bitter und sauer das Gesicht verzerrte, die Schleimhäute zusammenzog, die Zunge pelzig und den Mund trocken machte, dieses stumpfe Gefühl würde einem warmen, reifen und vollen Aroma weichen, unerschöpflich und groß.
Wenn man nur lange genug kaute. Wieder entschwebte sein Blick. Es machte ihn ruhig, dieses satte Grün, die tausend verschiedenen Nuancen, die bis ins Bläuliche wuchsen. Sogar riechen konnte er das Grün der gezackten Blätter, die am Rand wie gesägt aussahen, die Oberseite matt und dunkel, die Unterseite filzig. Er spuckte etwas Holziges in die Büsche. Bitter war der Geschmack in seinem Mund. Er dachte an die Schule. Letztes Jahr war er auf das Gymnasium nach Brühl gewechselt und jetzt, wo das Abitur kurz bevorstand, war es mit den schönen Künsten doch nicht das gewesen, was er erwartet hatte. Zu allem Möglichen hatte er sich Farben und Formen ausgedacht, aber zu einer für ihn nützlichen praktischen Übung war es nicht gekommen.
Er fixierte ein verschrumpeltes Blatt, peilte seine Größe mit dem Daumen, bildete Konturen und Linien nach, so lange, bis die Augen schmerzten, das Blatt an den Rändern unscharf wurde und mit dem Himmel verschmolz.
Am Morgen hatte er in einem furiosen Anfall über die misslungene Darstellung eines Kirschzweiges ein gutes Dutzend Zeichnungen, an denen er verbissen und wie betäubt gearbeitet hatte, vor den Augen seiner erschrockenen Schwester zerfetzt und in die Ecke geworfen. »Was du dir antust«, hatte sich Agnes entsetzt, aber es war ihr anzusehen gewesen, dass sie nichts begriff von dem, was in ihm vorging. Tante Therese kam ihm in den Sinn, die, mit Blick auf die mit bemalten Papieren und Pappen beklebten Wände seines Zimmers, die Augenbrauen hochgezogen und anerkennend genickt hatte. »In unserem Pitt steckt was drin.« Auch die Tante verstand nichts, rein gar nichts, ebenso wenig wie die gesamte protzige Verwandtschaft, die sein Tun für vorübergehend hielt, Auswüchse der Pubertät, unbedeutend für die spätere Karriere. Sollten sie alle denken, was sie wollten.
Seit er vor Jahren seinen Vater nach Düsseldorf zur großen Kunstschau begleitet hatte, stand sein Entschluss fest. Sobald wie möglich wollte er sich ins Leben werfen, nach Düsseldorf gehen, um Kunst zu studieren an der Akademie, ab dem Herbst schon. Im Malen würde er den Dingen nah kommen, ihr Wesen und ihren Ursprung ergründen.
Düsseldorf, das klang wie eine Verheißung. Dort hatten auch Feuerbach und Vogeler studiert, Böcklin nicht zu vergessen, von dem ein Ausstellungsplakat an seiner Zimmertür klebte. Fortgehen würde er aus dem riesigen Haus. Der Vater würde nicht begeistert sein, aber letztlich zustimmen müssen; war er doch selbst ein musischer Mensch und besonders der Kunst zugetan. Eine neue Welt würde sich für ihn auftun, fern der Enge seines Heimatortes, bevölkert von frei denkenden und feinsinnigen Menschen. Dazu Farben, überall Farben …
Die Beere in seinem Mund war zu einem Brei geworden. Ver­mischt mit Speichel hielt sich der herbe Geschmack, auch das Pelzige auf der Schleimhaut hatte nicht nachgelassen.
Mit den Augen bildete er Blätter und Wolken nach, grau, grün und weiß, dann wieder schieferblau, wie hineingehaucht schwefelgelb und violett. Er sah sich Farben mischen, Leinwände spannen, Firnisse anrühren. Er würde Menschen abbilden, auch Tiere, Pflanzen und Landschaften – ja, vor allem Landschaften.
Ein Windstoß bewegte die Blätter der Hecke und entblößte Stachel an kräftigen Stängeln. Manche der Blätter waren angefressen, löchrig – auch der Himmel darüber löchrig, zerzaust.
Als er Ammis Schritte über den Kies heranknirschen hörte, dachte er an den Brief, den er am Nachmittag abgeschickt hatte. Eigenmächtig hatte er um Aufnahme an der Düsseldorfer Kunstakademie angefragt und jetzt, wo Ammi in ihrer weißen Schürze vor ihm stand, lächelnd den Korb mit der Weißwäsche auf die Hüfte stützte, ihn keck ansah und ankündigte, süßen Sirup für ihn kochen zu wollen, hätte er es ihr fast gesagt. Aber er wollte sein Geheimnis auskosten, bewegte es in Gedanken hin und her, malte sich dies und das aus, fühlte es wachsen und Formen annehmen, als ein noch entferntes Gehöchtnis* (geschützter Ort, Refugium) reifen und gedeihen.
Ein langes Gesicht hatte Ammi gezogen, weil er nicht auf den Sirup reagiert hatte. Mit dem Wäschekorb sah er sie in Richtung der Dienstzimmer verschwinden. »Dann eben net«, hatte sie gemurmelt, dabei mürrisch den Zaun zum Garten aufgestoßen und eine Katze aufgescheucht, die fauchend zur Seite sprang.
Nicht einmal Ammi, dem Dienstmädchen, wollte er es verraten, obwohl sie für manchen Scherz zu haben war und bei Verhandlungen mit dem Vater immer überdurchschnittlich gut abschnitt. Niemand sollte es wissen. Auch Arnold und Theodor nicht, die jüngeren Brüder, schon gar nicht Fritz, weil der nichts für sich behalten konnte. Lucia, die Älteste, kam ohnehin nicht in Betracht.
Agnes würde es als erste erfahren. Sie kannte seine totale Erschöpfung, die tagelangem Malen folgte. Sie kannte sein hartes und verbissenes Gesicht, das er bekam, wenn ihm etwas nicht gelang. Energisch spuckte er den Beerenbrei auf den Boden. Nein, die Frucht war nicht weicher geworden im Geschmack, aber wenn schon: süß oder bitter – Kunst würde er trotzdem studieren.