Bitten der Vögel im Winter
Kinderheim Mulfingen, Frühherbst 1942
»Nun iss endlich! Nun mal los, iss! Und sitz gerade!« Diese Worte genügen. Er stößt den Teller zurück, die Suppe schwappt über, gelbliche Brühe bildet eine Pfütze, die langsam in den Ritzen der Tischplatte versickert. Mit erhobener Hand steht die Schwester vor ihm, die weiße Flügelhaube zittert. »Was für ein Tölpel!« Er schrammt den Stuhl zurück: »Ich will nach Hause!« Die Schwester reißt an seinem Haar, droht mit Arrest. Er hält die Hände vors Gesicht, erwartet, dass sie zuschlägt. Aber sie schreit nur. »An Regeln halten musst du dich! Sonst wird es nichts mit dir!«
Ihre Stimme wird grell, türmt sich vor ihm auf. Ob er das verstanden hat. Er sitzt da, sieht den aufgerissenen Mund mit den schadhaften Zähnen, die roten Flecken, die sich in ihrem Gesicht gebildet haben und klammert sich an die Sitzfläche des Stuhls. »Ich will nach Hause!«
Ein Junge sitzt ihm gegenüber. Seine Haare sind so kurz, dass man die Kopfhaut sieht. Er löffelt und hält den Kopf gesenkt. Als die Schwester eilt, einen Lappen zu holen, flüstert er: »Halt die Klappe mit so was. Wenn sie böse ist, nimmt sie dir den Teller weg.« Der Junge schielt nach der auf der Tischplatte zerfließenden Suppe. Mit schnellen Bewegungen tupft er mit einem Stück Brot die restlichen Brühepfützen vom Tisch, stopft sich alles in den Mund und schmatzt.
Das Sprechen während des Essens ist verboten. Nur das Scharren der Löffel und das Klappern mit Besteck sind zu hören. Der Kahlgeschorene hat ständig die Schwester im Blick. Wenn sie nicht hinsieht, kratzt er sich an den Füßen. Er ist barfuß. Seine Zehen sind voller Frostbeulen.
Anton ist noch nicht lange im Heim. Er sitzt neben zwei Mädchen. Sie heißen Rutla und Dori. Er hat gehört, wie die Schwester ihre Namen gesagt hat. Rutla und Dori sind auch barfuß. Sie könnten Zwillinge sein, so ähnlich sehen sie sich. Sie sind gleich groß, tragen bunte Tücher, unter denen geflochtene Zöpfe hervorsehen. Alles an ihnen ist rund und prall: die Gesichter mit den Knopfaugen, die kleinen Hände, die Bäuche unter den gestrickten Kleidern, sogar die Füße. Sie sitzen nur da und sehen herüber. Als die Schwester mit dem Lappen kommt, rücken sie dicht zusammen, wie Vögel im Winter.
Die Schwester schwenkt den Lappen und sieht Anton strafend an. »Das machst du nicht noch mal, sonst kommst du in den Keller!« Der Kahlgeschorene gibt ihm einen Tritt unterm Tisch. Der Speisesaal ist voller Kinder. Viele sind Geschwister. Die Jüngsten können kaum über die Tischplatte sehen. Die größeren Jungen besetzen einen Tisch am Fenster. Sie tragen braune Arbeitsanzüge und Holzschuhe. Manche kommen nur abends. Tagsüber helfen sie im Feld oder im Wald, harken die Wege, die akkurat sein müssen, pflegen die Blumenrabatten. Einer von ihnen heißt Emil. Er ist bei einem Bauern eingeteilt. Es ist zwecklos, mit ihm zu sprechen, weil er taub ist.
Nach dem Essen klatscht die Schwester in die Hände. Sie steht mit ihrer riesigen Flügelhaube vorne neben der Tür: »Los, los, a bissle schneller!« Alle erheben sich von den Plätzen, sofort ändern sich die Töne im Saal. »Wir danken dir, allmächtiger Gott, für alle Wohltaten, der du lebst und herrschest in Ewigkeit …« Die Schwester hebt die Hand, berührt Stirn und Brust, dann die linke und die rechte Schulter: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.« Mit ihr bekreuzigen sich alle.
Jungen und Mädchen schlafen getrennt. Außer einem Stockbett hat jedes Kind einen Schemel, ein kleines Spind, einen Trinkbecher, einen Napf und einen Löffel. Blitzblank muss alles sein. Kein bisschen Staub darf an den Schuhen kleben. Spind und Bett müssen ordentlich gehalten werden. Die Bettlaken haben oben rechts drei rote Kreuze. Die roten Kreuze müssen sichtbar sein, wenn das Laken zusammengefaltet ist. Jeden Morgen, vor dem Appell, werden Spinde, Schuhe und Hände kontrolliert.
Alles ist Anton fremd. Der Schlafsaal mit dem trüben Licht, die vielen Betten übereinander, das Wecken um fünf Uhr morgens. Auch das Beten, das unbehagliche Schweigen zu den Mahlzeiten, das frühe Zubettgehen. Die gestärkten Hauben der Schwestern, ihre flatternden Gewänder, die andauernden Warnungen vor Todsünden machen ihm Angst. Wenn gesungen wird, klingt es nicht wie früher, als die Mutter noch die Lieder angestimmt hat. Das Essen schmeckt scheußlich. Das schwarze Brot ist so hart, dass man sich die Zähne ausbeißen könnte. Die Milch aus dem verbeulten Aluminiumnapf ist mit Wasser verdünnt.
Bitter ist es, dass er seine Sprache nicht mehr sprechen darf. Und dass sie ihm die Haare geschoren haben wie einem Schaf. Am schlimmsten aber ist, dass er nicht weiß, wo der Vater und die Mutter und die Geschwister sind und wann sie ihn endlich holen.
»Ich will nach Hause.« Das ist alles, was er sagt. Die Schwester sitzt vor ihm und zieht ihn an den Ohren. »Nach Haus? Wo soll das sein? Na, kannst mir das mal sagen?« Er ballt die Fäuste. »Aber ich will nach Hause! Zu meinem Vater!« Da packt sie ihn am Kragen: »Kannst nix andres sagen? Dein Vater! Wo soll er schon sein? Eingesperrt habens ihn, weil er um die Häuser geschlichen ist. Froh sein kannst, dass du da bist! A Suppe gibts heut keine mehr! So ein Sturkopf! Jetzt kniest dich in die Ecke, da nüber, unters Kreuz, und da bleibst, bis ichs sag.«
Am Tag ist alles voller Stimmen. Nachts sind es die Atemzüge und das Stöhnen der vielen Schlafenden. Einer von ihnen ist Emil. Anton weiß, dass Emil eine Ohrfeige von einem Polizisten bekommen hat, die so stark war, dass er in ein Wasser fiel, wo er bewusstlos liegenblieb und erst gefunden wurde, als seine Ohren nichts mehr taugten. Er weiß auch, dass Emil nichts gemacht hat, gar nichts, nur nach seinen Geschwistern hat er gefragt, aber das war dem Polizisten zuviel gewesen. Für Anton ist Emil ein Wunder. Einmal hält er sich die Ohren zu, weil er wissen will, wie es ist, wenn man nichts hört. Aber so sehr er die Ohren auch presst, er hört trotzdem etwas.
Der Kahlköpfige aus dem Speisesaal heißt Karli, liegt in der Pritsche über ihm und ist schon ein halbes Jahr da. Meint er jedenfalls. Genau weiß er es nicht. Karli besitzt ein Messer und eine Flöte. Die Flöte hat er aus Weiden geschnitzt. Wo er das Messer versteckt hält, sagt er nicht. Manchmal murmelt er im Schlaf und schlägt um sich, dass das Bettgestell wackelt und Anton wach wird.
Einmal, es ist tiefe Nacht, da steht Anton auf und setzt sich mit angezogenen Knien auf das Fensterbrett, presst sich so dicht ans Fenster, dass er den kalten Luftzug spürt. Er schnieft und friert, aber das Frieren macht ihm nichts. »Was hast du?«, fragt Karli und beugt sich über die Bettkante. »Hör auf mit dem Geschnauf. Das hilft überhaupt nichts. Leg dich und gib Ruhe!« Karli verschwindet wieder. Anton lehnt den Kopf an die Scheibe, sieht, wie das Glas an der Stelle beschlägt, auf die sein Atem trifft, wie die beschlagene Stelle kleiner wird, wenn er einatmet, wie sie größer wird, wenn er ausatmet. Es dauert ein bisschen, dann taucht Karlis Kopf wieder auf. »Warum glotzt du ständig aus dem Fenster?« Anton ignoriert die Frage. Am liebsten wäre er allein. Er versucht sich den Kahlgeschorenen wegzudenken, der aber hängt fast über ihm: »Wirst schon sehn, wie es ist, wenn du nauskommst, wirst schon sehn, wie’s dann ist …«
Anton stellt sich vor, wie es wäre, tot zu sein. Ob er dann so etwas wie Luft wäre, schwebend über Baumwipfeln? Im Frühjahr waren sie noch alle zusammen gewesen. Der Vater, die Mutter, die Geschwister, die Tante. Ob sie nach ihm suchen? Der Vater sicher. Aber warum kommt der Vater nicht und holt ihn? Die Schwester sagt, dass er eingesperrt ist, aber seinen Dada kann man nicht einsperren. Er ist stark und kann sogar fliegen, wenn er nur will. Auch die Männer, die ihn geholt haben, können ihn nicht einsperren. Der Vater hat sich gewehrt, als sie kamen. Geschrien, geschrien, geschrien hat er. Dass er seine Kinder nicht wiedersehen wird. Die Geige haben sie ihm deshalb zerschlagen.