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Ute Bales

Autorin im Rhein-Mosel-Verlag

*Unterhaltsame Schonungslosigkeit*

von Detlev Foth

*Unterhaltsame Schonungslosigkeit*

von Detlev Foth

Eines vorab: dieses lesenswerte Buch habe ich mir nicht gekauft, der Verlag - nun, der Rhein-Mosel-Verlag - hat es mir geschickt, und zwar mit freundlichen Grüßen. Mit dieser Geste ist natürlich eine
Aufforderung verbunden: Lies es dann auch. Insgeheim war ich froh, dass die Autorin, Ute Bales, es mir nicht selbst geschickt hat, denn ein wenig kennen wir uns, und ich weiß nicht mehr, wer es gesagt hat, ich denke, es war Fritz Raddatz - kann mich aber auch irren -, der bemerkte, der beste Weg, eine Freundschaft zu beenden, sei, einem Freund das eigene Buch zu schenken. Oder war es Michael Krüger? Egal. Gut, in diese Verlegenheit bin ich nicht gekommen, kann also ganz befreit in das Buch eintauchen und auch ungehemmt davon berichten. Zunächst: dieser Erzählband ist insgesamt nicht nur unterhaltsam, er ist auch wichtig, gerade weil er sprachlich oftmals so harmlos anmutet, dann aber, seine Widerhaken flachdrückend, die Schnur sehr straff werden lässt, um einmal dieses Bild zu bemühen. Wie ist das gemeint? Bales Erzählungen wirken auf mich wie aufziehende Gewitter an schwülen Tagen: feingesponnen, wird manches Gewohnte und Gewöhnliche zur Katastrophe, die über die jeweiligen Protagonisten hereinbricht. Ein Beispiel, in der Erzählung „Amerika“ rutscht der verwitwete Bauer Hubert Metzen unaufhaltsam in eine nahezu absolute Einsamkeit, nachdem seine zwei Söhne den Hof und die Heimat aufgrund von Existenzangst und Hoffnungslosigkeit Richtung Amerika verlassen. Selbst als Metzen über seinen Schatten springt und enormen Mut beweist, indem er nach Jahren seine Jungs, die das Glück wider Erwarten nicht gefunden haben, besucht - seine erste, einzige und letzte Reise, wohlgemerkt -, scheint sein Schicksal besiegelt. Negativ? Nicht wirklich, denn es geht darum, sich der Wirklichkeit zu stellen, ohne sich zu verlieren, ja, sich dadurch - diese besondere Prüfung irgendwie meisternd - deutlicher zu erkennen und sich wieder anzunähern zu können: an sich selbst. Ende offen, oder etwa doch nicht?

Weiter: da gibt es zwei überragende Texte, der eine mit dem Titel „Almuth denkt“, der andere heißt „Hundeelend“; beide verbindet, gelinde gesagt, ein fehlgeleiteter Erziehungsauftrag. Almuth, der Prototyp eines
durch die Staatsmacht verführten Menschen von mittelmäßigen Gaben, dürftigen geistigen Kapazitäten und nicht ausgeprägten Talenten, der seinen ganzen Lebensfrust sadistisch an den Kindern, die ihm /zugeteilt /werden, abarbeitet. Der Nationalsozialismus machte es möglich, dass vollkommen unfertige, moralisch unausgeformte Menschen plötzlich scheinbar unangreifbare Positionen einnahmen, die ihnen ein
unmenschliches Schalten und Walten erlaubten, ja sogar förderten. Doch was machen und wohin mit sich als kleiner Nazi nach der /großen /Naziherrschaft? Da beweist Bales großes psychologisches Vermögen, einen scharfen Blick, ein wunderbares Gespür für die Tragik nicht nur der Opfer, auch für die der Täter; ganz nebenbei - ein erzählerisches Kunststück - verrät Almuth den eigenen Vater, als sei es nichts, auch
sein Tod lässt sie kalt, und das war vorher, im alten Leben, und nachher, nichts als Leere, Verdruss - Einsicht Fehlanzeige - und sozusagen redlich verdiente Einsamkeit: großartig beschrieben.

Die Erzählung „Hundeelend“ malt das Leben im Internat in dumpfen, abstoßenden, traurigen Farben, den Leidensweg des Jungen Paul; hart, kalt, erbarmungslos, diese Wirklichkeit, geprägt von körperlicher Gewalt und - diskret angedeutet, dadurch umso brutaler in der Wirkung - sexuellem Missbrauch; kaum ein Auweg, keine Flucht, die möglich wäre, während die Außenwelt, Pauls Eltern inbegriffen, das Elend und den Kummer und die Grausamkeit dieser Einrichtung nicht wahrnimmt, vielleicht auch gar nicht wahrnehmen will, und könnte sie es allemal; ein Wille war ja gar nicht vorhanden. Diese Erzählung hat eine
Intensität, die mich an den großen Roman „Die Verwirrung des Zöglings Törleß“ von Robert Musil erinnert. Ein dichtes Erzählbild, das Ute Bales hier entwirft, einfühlsam und konkret!

Ich könnte so fortfahren, aber da würde ich zu viel vorwegnehmen, der Leser soll ja selbst entdecken, was die Bales ihm mitteilen möchte. Vieles steht in der Erzähltradition eines Siegfried Lenz, ich denke da an „Eine Dreingabe“, an „Die Vögel werden weniger“, an „Alles im Kopf“. Rätselhaft: „Das mit Hilde“; man sollte den Text zwei-, dreimal lesen, um ihn wirklich zu verstehen, das Eigentliche, sein Substanzielles nachfühlen zu können; ganz kompliziert, das Einfache, das scheinbar Einfache. Hier wird der ewige Kosmos der Jugend allgemein, zudem die in den 70er Jahren häufig wahrgenommene Romantisierung der RAF
durch Heranwachsende im Besonderen beschrieben, ein Thema, das sich - insbesondere heutzutage - kaum ein Autor traut bzw. zutraut. Dann mündet Annäherung und Freundschaftsabbruch unter den dargestellten Jugendlichen in einer völlig unvermuteten Klärung, die Auflösung ist verblüffend und erschreckend, bis zum heutigen Tage hochaktuell - aber mehr verrate ich an dieser Stelle nicht. Glänzend geschrieben, so viel schon!

Bales unverstellter Blick zurück, in das Grauen, der Drang, sich gegen das Vergessen zu stellen, den Gedemütigten und Belasteten eine Stimme zu geben, das ist ihre große Fähigkeit und, wie mir scheint, auch ihr Auftrag: „Weiße Kaninchen“. Aber das Grauen, die stille Welt der Erniedrigten, das findet sich auch heute, natürlich, Ute Bales macht darauf aufmerksam, nicht anklagend, das entspräche nicht ihrer
Musikalität, eher nüchtern: „Germany“!

Nun wäre alles gesagt; und doch auch viel zu wenig. Daher: Leser, lies es selbst, dieses Buch!