Alle noch da
Leseeindrücke von Klaus Hansen
Alle noch da
Leseeindrücke von Klaus Hansen
Notwendige Geschichten über das Verschwinden von Menschen und Landschaften: „Keiner mehr da.“ Notwendig deshalb, weil sie erzählt werden müssen, bevor niemand mehr da ist, der sie erzählen kann. Sind es Eifler Menschen und Landschaften, die verschwunden sind, wächst bei der Eifler Autorin die Intensität von Trauer, Wut und Ohnmacht.
Mit dem „Verschwinden der Landschaften“ ist vor allem der Verkauf der Vulkanberge gemeint. Den Wöllersberg bei Lissingen, den Goldberg, der dem Dorf Ormont, Mont d’or, den Namen gab, es gibt sie nur noch als fassadäre Stümpfe, hohlen Backenzähnen gleich, mit wenig Bewuchs und Getier. Basalt- und Lavagestein wurden abgetragen und nach China verhökert. Das Gesicht der Landschaft, wie es Ute Bales in ihrer Kindheit angeschaut hat, existiert nicht mehr. Für die 1961 im schützenden Schatten des Wöllersberg geborene Autorin ist das eine schwer zu fassende Unerhörtheit.
In den 31 Geschichten des Bandes hält es die Autorin aber nicht nur mit den Verschwundenen, sondern auch mit den Zurückgebliebenen. Dabei gehört den Zukurzgekommenen, Unterdrückten und Außenseitern ihre Sympathie. Insbesondere für die keineswegs sympathische Bande der Fehlgeleiteten entwickelt sie ein genaues, manchmal verstörendes Feingefühl: Hinter den abscheulichen Taten sadistischer NS-Lehrer und Erzieherinnen, begeistert metzelnder Wehrmachtssoldaten, rassistisch verblendeter Mediziner, die Häftlingsversuche an die Stelle von Tierversuchen setzen, hinter alledem erkennt sie immer den verschonenswerten Menschen, der zur Rechenschaft zu ziehen ist und sein Fehlverhalten zu verantworten hat, dem aber nicht mit gleicher Münze heimgezahlt werden darf. Rachegelüste liegen der Verfasserin fern. Ute Bales ist eine Autorin mit unerschütterlicher Empathie und festem Gerechtigkeitssinn. Auch der übelste Täter ist irgendwo ein Opfer. Ein Memento, das den Verbrecher nicht entlasten, aber den Unbeteiligten zu denken geben sollte.
In einer der Geschichten verzeiht es die nachgeborene Protagonistin sich und ihrer Generation nicht, dass man die wortkargen Vorfahren und Mittäter „zu wenig gefragt“ hat und gesteht sich ein, jetzt, wo sie tot sind, „weder Vater noch Mutter richtig gekannt zu haben“. Das Delikt der unterlassenen Nachfrage macht die Kinder zu Mitschuldigen einer versäumten Aufklärung – und damit zu Mitverantwortlichen für die Wiederkehr der Barbarei.
Die Autorin, deutsches Kind des Kalten Krieges, kommt in vielen der hier vorliegenden Kurzgeschichten wie auch in ihrem umfangreichen Romanwerk
immer wieder auf das Schicksal ihrer Eltern- und Großeltern-Generation zurück. In ihren Erzählungen ist die Gegenwart der Vergangenheit so lebendig, dass sie wehtut.
Die schriftstellerische Klasse des Werkes sei durch wenige Hinweise angedeutet:
Die Verzweiflung des Witwers findet ihren Ausdruck in den „verschafften“ Händen, „mit denen er immer wieder über die Tischplatte rieb“.
Um arme Bauernjungen aus der Eifel für der Auswanderung nach Amerika zu begeistern, genügt der Klang der Wörter „Illinois“ und „Ohio“.
Das ist die Trauer eines Vaters, dessen Söhne sich aufgemacht haben, um anderswo ihr Glück zu versuchen: „In der Küche setzte er sich auf die Eckbank am Fenster, dorthin, wo die Jungen immer gesessen hatten. Dann stand er wieder auf und setzte sich auf einen der Stühle, nur um zu sehen, dass die Eckbank jetzt leer war.“
Und was vermissen die fortgelaufenen Jungspunde, wen sie zurück an ihre Heimat denken? „Den Ginster zu Pfingsten und die Kirmes im August.“
Der Wander-Hausierer geht „zu Gertrudis“ auf jährliche Tour und kehrt „auf Hubertus“ wieder heim. Man „zieht“ den Hut zum Gruße ehrbarer Mitbürger; bei anderen „rückt“ man ihn nur. Moderne Musik aus dem Radio hört sich wie „Durcheinander in de Schublad“ an. - Schöne Bilder, zurückhaltende Regionalismen, feine Idiosynkrasien. Freude am Lesen!
Wer sich von Edvard Munchs „Der Schrei“ im Mark erschüttert fühlt; wer über das Schicksal von Mendel Singer, Held in Joseph Roths „Hiob“, Tränen vergießt; wer fassungslos vor Walter Summerford steht, dem viermal widerfuhr, was statistisch fast niemandem auch nur ein einziges Mal widerfährt, nämlich vom Blitz ge- und schließlich erschlagen zu werden; wer die „Kalendergeschichten“ von Johann Peter Hebel schätzt, der wird sich den meisten der 31 Geschichten von Ute Bales nicht entziehen können und namentlich die „Liebesgeschichte aus dem Dorf“ neben Hebels „Unverhofftes Wiedersehen“ zu jenen Erzählungen rechnen, die wieder und wieder zu lesen man nicht müde wird.