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Ute Bales

Autorin im Rhein-Mosel-Verlag

Interview: Nevipe - Nachrichten und Beiträge aus dem Rom e.V. - 02/2019

 

Interview mit Ute Bales zu Bitten der Vögel im Winter

Ein neuer Roman und ein Interview dazu

Ute Bales’ Roman „Bitten der Vögel im Winter“ thematisiert die Verfolgung der Roma-Minderheit unter dem NS-Regime.
Im Mittelpunkt steht mit Eva Justin eine der zentralen Figuren der Erfassung der Minderheit durch die Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle in Berlin Dahlem.
Justin war überzeugt von der völkischen Idee eines „sauberen Volkskörpers“ und hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Angehörigen der Minderheit gedemütigt, deportiert, verstümmelt und ermordet wurden. Sie stand in einem engen Kooperationsverhältnis mit ihrem Vorgesetzten Dr. Robert Ritter, dessen Ansichten sie teilte und dessen Anweisungen sie vorbehaltlos ausführte.
Justin war, so die Autorin, „mehr als eine Mitläuferin“. Ute Bales beschreibt Justin in der Rolle einer Täterin, der bewusst ist, was sie tut. Erbarmungslos riss Eva Justin Familien auseinander, horchte Kinder aus, ließ Leute verhaften, half bei Selektionen. Spiele, mit denen sie Sinti-Kinder in einem Kinderheim testete, entschieden über Leben und Tod.
Der Roman schildert die Kindheit der Justin im Kaiserreich, die strenge Erziehung, den Drang, alles zu sortieren und zu ordnen, das Nicht-Hinsehen, das Ausbleiben jeglicher Selbstreflexion.

Ute Bales, 1961 in der Eifel geboren und dort aufgewachsen, studierte Germanistik, Politikwissen-schaft und Kunst in Gießen und Freiburg, wo sie seither lebt. Sie hat bisher sieben Romane veröffent-licht sowie zahlreiche Kurzgeschichten und Essays.
Der Roman „Bitten der Vögel im Winter“ wurde mit dem Martha-Saalfeld-Literaturpreis 2018 des Landes Rheinland-Pfalz ausgezeichnet, ist im Rhein-Mosel- Verlag Zell als Hardcover-Ausgabe erschienen, hat 410 Seiten und kostet € 24,80.

Auf Youtube gibt es zum Buch einen kleinen Film. Es handelt sich dabei um ein Projekt im Rahmen des Martha-Saalfeld-Förderpreises 2018, unterstützt vom ZKW Zentrum für Kultur- und Wissensdialog der Universität Koblenz-Landau, dem Ministerium für Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz in Zusammenarbeit mit dem Nano Theater e.V. Ludwigshafen: Arne Houben, Bitten der Vögel im Winter.

„Justin war eine ganz normale Frau, kein Monster und auch keine Geistesgestörte“

Ein Gespräch mit der Autorin

 

Zuerst einmal ist zu sagen, dass ich ein beeindruckendes Buch las, dessen Verfasserin sich einer außerordentlich schwierigen Thematik widmete, mit der sie, wie ich finde, gut über die Runden gekommen ist. Das Buch las sich, und wem der Stoff bis dahin fremd war, der kann viel erfahren.
Es ist ja so, dass Sie, Frau Bales, sich einem Zeitabschnitt zugewandt haben, der nach wie vor im Alltagsgespräch nicht gerade eine bevorzugte Position einnimmt. Was hat sie motiviert, sich mit den NSJahren und dann auch noch mit der Zigeunerverfolgung, also einem der jahrzehntelang „vergessenen“ und bis heute wenig wahrgenommenen Themen zu beschäftigen?

 

Mich hat einiges motiviert. Zum einen, dass die Verfolgungen der Sinti und Roma bis heute nicht reflektiert werden und sogar straffrei geblieben sind. Entweder wissen die Leute nichts oder sie wollen nichts wissen. Das Thema wird verschwiegen, an den Rand gedrängt. Was mich auch motiviert hat, war die Idee, das Denken und die Psyche einer Täterin zu beleuchten und dann aus deren Perspektive zu schreiben. Ich wollte wissen, wie man verstrickt wird in solche Taten, wie man sie befürworten und unterstützen kann. Das beschäftigt mich schon lange. Die Täterperspektive einzunehmen war natürlich mit Risiken verbunden. Das Buch wurde deshalb heftig kritisiert. Ich wollte mit Klischees aufräumen und auch mit Stereotypen. Kein Mensch ist nur Täter oder nur Opfer. Eine solche Darstellung halte ich für gefährlich und wahrheitsverfälschend. Wir müssen endlich aufhören, uns immer wieder zu versichern, dass Foto: Michael Spiegelhalter, Freiburg 15 keiner die Nazis gewählt hat, dass keiner etwas gesehen hat und schon gar nichts wusste, alle immer schon dagegen waren, dass vor allem die eigene Familie sauber und Opa nahezu ein Widerstandskämpfer war. Das ist falsch und das wollte ich zeigen. Zum Thema der Verfolgung: Die Sinti und Roma stellen bis heute eine Gruppe dar, auf die sich Vernichtungsfantasien richten. Sie gehören zu den klaren Verlierern der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter, wurden systematisch verfolgt und gedemütigt. Immer wieder. Kein Fall der Sinti, Roma oder Jenischen wurde während der Nürnberger Prozesse verhandelt. Deshalb hat sich auch kein Bewusstsein entwickelt für deren Belange. Sie mussten nach dem Krieg beweisen, dass sie Unrecht erlitten hatten, die Beweislast hatten die Opfer. Sie standen unwilligen staatlichen Instanzen und schweigenden Tätern gegenüber. Es gab natürlich kaum Entschädigungen. Aber es gibt weiterhin Ghettoquartiere, Vorurteile, Ausgrenzungen und Hass. Und Rassismus. Deshalb habe ich das Buch geschrieben.

 

Der Leser stößt auf eine sehr glaubwürdige Beschreibung der konkreten Alltagsverhältnisse, aber auch der Lebensumstände der Verfolgten etwa in dem Lager Marzahn, die bis in die kleinen Details hineingeht. Sie müssen umfangreich recherchiert haben. Was waren Ihre Quellen?

 

Ja, das waren umfangreiche Recherchen, für die ich allerdings viel Unterstützung hatte. Wenn auch leider kaum aus der Gruppe der Sinti und Roma selbst. Ich konnte auf Archive, Dokumente, Filmmaterial, Bücher, Interviews, Zeitungen, Internet, Datenbanken und vieles mehr zurückgreifen. Zuletzt auch auf einen ganzen Ordner „Persilscheine“, die Robert Ritter gesammelt hat. Ich habe die verwendete Literatur übrigens im Roman angegeben.

 

Dennoch fand ich, hätte die Darstellung der Verfolgten und der Situation, in der sie sich befinden, höhere Anteile in Ihrem Buch einnehmen sollen.

 

Das ist vielleicht ein Eindruck. Ich meine nicht, dass die Opfer den kleineren Teil des Buches einnehmen. Deren Situation, die Ungerechtigkeiten und die Qualen scheinen bei allem, was Eva Justin tut, durch. Aber ich habe nur kurze Passagen aus deren Perspektive erzählt, was mir mehrfach vorgeworfen wurde. Natürlich ist es immer angenehmer, sich mit den Opfern zu befassen, weil man sich mit ihnen leichter identifizieren kann. Deshalb wird auch gerne und viel über Opfer geschrieben. Ich wollte den Blick auf die Täter richten. Natürlich bereitet eine Figur wie Eva Justin Unbehagen. Man hat kritisiert, dass ich sie zu menschlich zeige. Gerade das habe ich als Herausforderung gesehen. Justin war eine ganz normale Frau, kein Monster und auch keine Geistesgestörte. Sie lebte allerdings in einer Zeit, in der das, was sie tat, und was wir heute als Unrecht betrachten, vom Staat gewünscht und gefördert und von nicht wenigen Menschen für gut befunden wurde. Justin und Ritter waren in der NS-Zeit angesehene Leute. Mir wurde auch vorgehalten, die Schuld der Täter durch Einblicke in deren Privatleben zu relativieren. Ich bin der Meinung, dass eine freie Erinnerungskultur nichts leugnen und nichts unterschlagen darf, sondern diese Zwiespältigkeit akzeptieren muss. Ich wollte viel Emotion zeigen und zwar auf beiden Seiten. Wenn man nämlich wissen will, wie so ein System funktionieren und so viele Anhänger gewinnen konnte, wenn man also die Gründe dafür untersucht und versucht zu verstehen – verstehen und Verständnis sind zweierlei Dinge – dann muss man sich hineindenken und sich denen nähern, die dafür verantwortlich waren. Das müssen wir so offen wie möglich tun.

 

Im Mittelpunkt stehen mit Robert Ritter und Eva Justin zwei führende Verfolger, die eng miteinander verbunden waren. Sie arbeiteten damals in dem als wissenschaftliche Instanz geltenden Erfassungs-institut, der Rassenhygienische Forschungsstelle in Berlin-Dahlem, das wesentlich die Deportationen ins Generalgouvernement und dann nach Auschwitz vorbereitete. Über diese beiden und ihr Verhältnis zueinander ist abseits ihrer Arbeitsaufgaben kaum etwas überliefert. Um sie ins Zentrum ihres Buchs stellen zu können, benötigten sie ein Konzept für die zwei. Freihändig trafen Sie dazu ihre Entscheidungen. Wie sind Sie dabei vorgegangen?

 

Freihändig stimmt nur begrenzt. Ich hatte, wie gesagt, umfangreiches Material. Die Beziehung Ritter – Justin war nicht schwer zu rekonstruieren. Aber natürlich handelt es sich um einen Roman und meine Interpretation der Dinge ist eingeflossen. Das ist ja das Schöne an einem Roman und überhaupt an der Kunst.

 

Mir erscheint Ihr Ritter als ein typischer Vertreter des Bildungsbürgertums, einerseits eine hohe formale Bildung, andererseits in mancher Hinsicht ein Totalausfall, ein Erfassungsbürokrat mit pathologischen Zügen („zwischen Daumen und Zeigefinger dreht er Papierkügelchen, … Hände in ständiger Bewegung“). Und seine Kollegin und Partnerin als klassisches Kleinbürgertum, keine Anforderungen von oben infrage stellen, nicht versagen, Tritte nach unten. „Frostige“ Gestalten, sie beide. So kam es bei mir an. War es auch so gemeint?

 

Das haben Sie gut beschrieben. Die beiden waren unterschiedlich, hatten aber gleiche Ziele. Ich denke, ich komme mit meiner Darstellung den tatsächlichen Figuren ziemlich nah. Justin und Ritter lebten in einer anderen Zeit, waren obrigkeitshörig, anders erzogen mit anderen Werten. Auch die Geschlechterrollen waren klarer definiert. Herkunft und soziale Schicht spielten eine andere Rolle als heute. Bei16 Nevipe - Nachrichten und Beiträge aus dem Rom e. V. - 02/2019 de waren Workaholics, überzeugt davon, Teil einer wichtigen Bewegung zu sein und Deutschland zu „säubern“. Ihre Tätigkeit war ein Dienst an der Gemeinschaft, was beiden ein kaltblütiges und mitleidloses Handeln ohne Schuldgefühle ermöglichte. Mit Befehlen von einer nicht hinter-fragten Autorität kann man Menschen übrigens sehr weit bringen ... Das alles entschuldigt nichts. Eva Justin und Robert Ritter haben nicht reflektiert, nicht nachgedacht. Das macht sie zu Tätern. Denn auch in der NS-Zeit war es möglich, Dinge zu hinterfragen und menschlich zu handeln.

 

Beide Personen sind charakterisiert als Menschen mit verkorkster Emotionalität. Die Beschreibung ihrer Rollen in dieser Beziehungsgeschichte fällt dennoch, finde ich, sehr unterschiedlich aus. Eva Justin ist als Persönlichkeit fein gezeichnet, ihr Liebhaber bleibt in allem, was er tut ein blasser Bürokrat. Emotionaliät gibt es für Ritter nur in Gestalt von Sex und der als Spannungslöser und Übersprungsverhalten. Für Justin gibt es Momente der Hilfe und der Zuwendung, mit ihren Träumen gibt es eine zweite Ebene, auf der eine selbstkritische Perspektive existiert. Bei allem was sie tut und denkt, bleibt sie „unpolitisch“. Sie habe, lassen Sie sie sagen, einfach nur die Absicht, „die Welt ein bisschen besser machen“. Das habe ihr immer „gefallen“. Das sind Worte, die auch heute – in anderen Kontexten – gern vorgetragen werden. War das Ironie? Oder die Vorstellung, so abgrundböse wie der verbrecherische Ritter können Frauen gar nicht sein?

 

Nein, das ist keine Ironie. Dass Eva Justin die Welt besser machen wollte, ist ein Zitat von ihr selbst, nach dem Krieg geäußert. Ich glaube ihr das übrigens. Und natürlich können Frauen böse sein. In jedem von uns schlummert Täterpotential. Aber Eva Justin hat sich nicht bewusst auf die Seite des Bösen gestellt. Ritter ernannte sie zu seiner Stellvertreterin, was ihr Autorität und Macht bescherte. Autorität und Macht können etwas Lustvolles sein. Aus den Sinti und Roma hat sie sich nichts gemacht. Auch nicht aus den Sinti-Kindern, die sie für ihre Forschung missbraucht hat und die fast alle in Auschwitz umgekommen sind. Da war sie kalt. Justin wollte alles recht und gut machen. Aber sie hat nicht gedacht. Aus Nicht-Denken resultiert oft verhängnisvolles Handeln. Beide haben bis zum Schluss nicht verstanden, was sie falsch gemacht haben sollen. Und sie haben ungestraft weitergemacht.

(Das Gespräch führte Ulrich F. Opfermann)