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Ute Bales

Autorin im Rhein-Mosel-Verlag

Das Leben geht weiter, bis alles Wüste ist

 

Zu Ute Bales‘ neuem Roman „Vom letzten Tag ein Stück“, Zell a. d. Mosel 2021

Von Klaus Hansen

 

Autorin
Ute Bales ist 1961 in Borler geboren, in Lissingen aufgewachsen und in Gerolstein zur Schule gegangen. Sie hat Germanistik, Politologie und Kunst studiert, zunächst in Gießen, dann in Freiburg, wo sie heute als freie Schriftstellerin lebt. Die vorliegende Geschichte ist ihr achter und bislang persönlichster Roman. Unter den vorangehenden sieben Büchern befassen sich drei mit dem Leben in der Eifel: „Der Boden so dunkel“, 2006 (neu erschienen als „Amerika ist weit“, 2018); „Kamillenblumen“, 2008; „Peter Zirbes“, 2010, „Unter dem großen Himmel“, 2012.

 

Es geht um alles
Die Vernichtung der Eifel ist das Thema. Und die Ohnmacht des Widerstands. Die Ich-Erzählerin und ihr Freund Bertram M. sind Kinder der Vulkaneifel und erleben Kindheit und Jugend in den 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Das Kuhdorf heißt Lissingen, 500 Einwohner, und der Hausberg heißt Wöllersberg, 481 Meter über NN. Ein Vulkan, der erst gestern gespuckt hat, vor gerademal zehn-, vielleicht zwanzigtausend Jahren, ein erdgeschichtlicher Wimpernschlag. Der Schoß ist also warm noch, aus dem es kroch. Aber wer denkt noch so? Bertram schon. Er „lebt in einer Gegenwart, die aus Vergangenheit besteht“, heißt es an einer Stelle des Buches. Bertram ist von Kindesbeinen an ein Unangepasster im Kuhdorf. Kein Wunder, war der Vater doch evangelisch und die Mutter zwar katholisch, aber ohne Sinn für Ordnung. Bertram verteidigt altes Erfahrungswissen, das er früh erwirbt, weil es im neuen wissenschaftlich gewonnenen Wissen verloren zu gehen droht, das sich ohne rot zu werden „smart“ und „evidenzbasiert“ nennt.
Bertram kann aus Steinen Funken schlagen und Feuer machen. Er kann Flötentöne mit den Wildtieren tauschen. Selbst aus giftigen Pilzen schöpft er Wohlbefinden. Der Moosbewuchs an Bäumen zeigt ihm die Himmelsrichtung. Aus Urin destilliert er Trinkwasser und legt glaubhaft dar, dass eine einzige Weide am Flüsschen Kyll mehr Einwohner hat als Lissingen und das benachbarte Gerolstein zusammen. Überhaupt ist er der Meinung, dass man Bäumen Namen geben sollte. Für ihn sind es Persönlichkeiten mit einem IQ weit über dem des Hirnmenschen. Dabei ist Bertram ein moderner Junge. Er liest französische Existenzialisten und hört Jazz von Miles Davis und Thelonious Monk. Bob Dylan und die Rolling Stones zitiert er aus dem Kopf und klampft dazu auf der Guitarre oder begleitet sich am Klavier. Die Freundin und Erzählerin sieht sich gerne an der Seite des Wurzel-Sepps und des Kuhdorf-Sartre. Von der Rolle einer Kuhdorf-Beauvoir ist sie allerdings überfordert.
Nach dem Abitur trennen sich ihre Wege. Er bleibt im Dorf, sie geht in den Süden Deutschlands, um zu studieren und zu arbeiten. Aber das Dorf lässt sie nicht los, auch wegen Bertram. Häufig kehrt sie zurück und bleibt oft wochenlang. Sie hängt an Bertram, nicht nur an seinen klugen Lippen und oft dunklen Worten. Am Ende aber wird sie doch sesshaft, im Süden, nicht wie eine Auswanderin, die ihr Glück gefunden hat, eher wie eine Heimatvertriebene, die ihres Glücks beraubt worden ist.

 

Eifel-Gold
Das Gold der Eifel ist nicht allein der goldgelbe Ginster im Mai. Das Gold der Eifel ist vor allem das Wasser unter der Erde, das in Gerolstein zum weltbekannten Sprudel wird, und das Vulkangestein über der Erde, das vielerorts abgesprengt und abgebaggert wird, um vor allem im Straßenbau verbraucht zu werden. Die Abbauprozesse haben im 20. Jahrhundert dank technologischer Neuerungen eine Gründlichkeit und Schnelligkeit gewonnen, die uns Zeitgenossen zu einer unerhörten Zeugenschaft zwingt: Berge, mit denen Hunderte von Generationen gelebt haben, werden binnen einer Generation zum Verschwinden gebracht. Das Gesicht der Landschaft wird zerstört. „Diese sanften Linien, sie sind wie ein Magnet“, schwärmte einst Walter Schenker. Zufluchtspunkte und Erholungsstätten, magische Orte für Generationen von Kindern, der Unterschlupf von guten und bösen Geistern, das Zuhause von essbaren Wurzeln und färbenden Blaubeeren – was immer die bewaldeten und von Höhlen durchdrungenen Vulkanhügel mit ihrer eigenen Fauna und Flora für die Eingesessenen waren, heute sind es nur noch Materiallager für Lava und Splitt, für Bims, Basalt und Tuff.

 

Und die Leute vor Ort?
Dass Menschen sich anmaßen, „alles zu besitzen, über alles zu verfügen, über Meer und Luft, über Tiere und Pflanzen, selbst über unsere Berge“, ist für Bertram der Anlass, Widerstand zu leisten, auch wenn er dadurch zur komischen Figur wird, denn im Dorf trifft er auf taube Ohren. Was ist schon ein nutzlos herumstehender Wöllersberg gegen die vielen sechsspurigen Autobahnen, die man bei uns und in China daraus machen könnte! So ein Berg, sagen die Leute, ist dazu bestimmt, abgeräumt zu werden. „So wie ein Schwein zum Schlachten da ist.“ Dass Schweine nachwachsen, Berge aber nicht, lässt man außer Betracht.

 

Nutzung ohne Pflege ist Raub
Mit Blick auf die legendäre 11. Feuerbachthese von Karl Marx hat der Philosoph Odo Marquard folgende Variante formuliert: “Die Philosophen haben die Welt nur verschieden verändert; es kommt aber darauf an, sie zu verschonen.” Sie pfleglich zu nutzen, sollte man besser sagen. Verschonung ist Utopie, Nutzung ist unausweichlich, aber Nutzung ohne Pflege ist Raub. Das alttestamentliche Gotteswort „Macht euch die Erde untertan“ wird bis in unsere Tage im Modus des Raubs vollzogen, nicht im Modus der Schonung und Nachhaltigkeit. Sich die Erde untertan machen heißt sie auszuplündern und verhunzt zurückzulassen. Man hat zwar keine zweite Erde in petto, dafür aber den Mars vor Augen, zu dem es sich in zivilisatorischer Mission aufzumachen gilt. Bertram wird nicht müde, im Fortschritt den Rückschritt zu erkennen, im Wohlstand die Armut, in der volkstümlichen Zuversicht („Unkraut vergeht nicht!“) die gesteuerte Verblendung. Sein Versuch, eine Pflanzen-RAF aus den Giftpflanzen der Gegend – Tollkirsche und Bilsenkraut, Eisenhut und Herbstzeitlose, Seidelbast und Eibe – in den Guerillakampf gegen das Ausbeuterpack zu schicken, hat etwas rührend Ohnmächtiges. Aber wer weiß. Vielleicht bringt es die Enkel von Ulrike Meinhof auf neue Gedanken. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

 

Naseweis
Immer wenn’s ins Kleinteilige geht, ins Detaillierte, entwickelt der Roman seine besonderen Stärken. Wie die gefährdeten Tiere und Pflanzen am geliebten Wöllersberg beschrieben, klassifiziert und sinnlich charakterisiert werden, das ist für den Leser sowohl lehrreich als auch eine Aufmunterung. Man möchte von der Lektüre aufstehen und schnurstracks in den Wald laufen, um nur noch zu schauen, zu riechen und zu schmecken.
Die Erzählerin kennt sich aus. Von dem, was kreucht, fleucht und floriert, weiß sie nicht nur die hochdeutschen, auch die lateinischen und sogar die moselfränkischen Namen. Aber Sprachmacht genügt nicht, um bedrohte Arten zu retten. Sie befeuert, leider auch, eine unterschwellige, avantgardetypische Arroganz: Würde sich die Welt nach uns richten, ginge es ihr besser. „Vor uns die Sintflut“, posaunt Bertram. Und man hört förmlich mit: „Sage hinterher niemand, wir hätten es nicht gewusst und euch davor gewarnt.“

 

Im Kontext
So wie man einen Berg, so kann man auch ein Buch „abtragen“. Indem man es liest. Aber am Ende der Lektüre ist das Buch, wenn es gut ist, gewachsen und größer als am Anfang. Während der Berg geköpft daniederliegt. Ute Bales‘ Roman gehört in die Reihe der bedeutenden Gegenwartsromane über die Eifel. Dem Leser drängen sich Assoziationen zu Alfred Andersch („Winterspelt“, 1974), Walter Schenker („Eifel“, 1982) und Norbert Scheuer („Der Steinesammler“, 1999) auf. Bertram M. steht an der Seite von Anton Braden („Steinesammler“), Jakob Simonis („Eifel“) und, nicht zu vergessen: Klaus Henkes, der Schmerzensmann aus Ute Bales‘ Debüt „Der Boden so dunkel“, 2006. Vier Mannskerle, die mit der Eifel geschlagen und von ihr gezeichnet sind. Alles „sinn reiche köpff“, wie Sebastian Münster 1544 über die Eifler schrieb, aber ob der widrigen Umstände zu Tode betrübte Melancholiker.

 

This ist he end, my only friend, the end
Früh im Buch heißt es, Bertram sei verschwunden. 200 Seiten später, das Buch neigt sich dem Ende, ist er noch immer verschwunden. Nach allem, was wir in der Zwischenzeit erfahren haben, dürfen wir annehmen, dass Bertram nicht tot, sondern auf der Suche ist. Von Kindesbeinen an war er auf der Suche. Wonach? Nach einem wirksamen Mittel gegen die fatale Angewohnheit, dass Menschen ihrem Wunsch nach Frieden und Wohlergehen permanent zuwiderhandeln und mit großer Leidenschaft an dem Ast sägen, auf dem sie sitzen. Gegen die Lust am Untergang, fürchtet Bertram, ist kein Kraut gewachsen.
„Zu fehlen scheint Bertram niemandem“, sagt am Ende die einzige, die ihn vermisst, eine Heimatvertriebene, die in Freiburg fröstelt, obwohl es dort immer ein paar Grad wärmer ist als im übrigen Land.